Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Tagung „Deutschlands Verantwortung in der Welt – Globale Herausforderungen aus europäischer Perspektive“ des Fritz-Erler-Forums der Friedrich Ebert Stiftung
21. November 2015 von Jens Kramer
Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Tagung „Deutschlands Verantwortung in der Welt – Globale Herausforderungen aus europäischer Perspektive“ des Fritz-Erler-Forums der Friedrich Ebert Stiftung
— es gilt das gesprochene Wort–
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie kennen das sicher alle von der Urlaubsplanung: Meer oder Berge? Kreuzfahrt oder Studienreise? Ganze Beziehungen sind schon an diesen Fragen gescheitert. Es gibt Situationen, in denen man es nicht jedem recht machen kann. Und es gibt Situationen, in denen man Entscheidungen treffen muss. Das ist in der Außen- und Europapolitik nicht anders als in privaten Beziehungen.
Einmischen oder Raushalten? In diesem Spannungsfeld, zwischen diesen beiden extremen Polen, bewegt sich deutsche Außenpolitik heute. „Ihr müsst Euch noch viel stärker einbringen!“, rufen die einen. „Haltet Euch bloß zurück!“, mahnen die anderen. Ich kann Ihnen sagen: Das ist ein ziemlicher Balanceakt, der uns da abverlangt wird. Denn egal, für welche Option wir uns am Ende entscheiden: Den einen ist es zu viel, den anderen ist es zu wenig.
Mein kleines Beispiel verdeutlicht die schwierigen Abwägungen, mit denen wir Außen- und Europapolitiker uns derzeit fast Tag für Tag beschäftigen. Einfache Lösungen oder gar Königswege gibt es nicht. Und einfache Erklärungen schon gar nicht. Deshalb geht mein herzlicher Dank zunächst an Frau Dr. Fandrych und das Fritz-Erler-Forum für die Möglichkeit, heute mal den ganz großen Bogen zu spannen. Ich freue mich, heute mit Ihnen über Deutschlands Verantwortung in Europa und der Welt zu diskutieren.
Für mich hat Ihre Einladung auch eine ganz persönliche Dimension. Denn ich stände heute wohl nicht hier, wenn die Friedrich-Ebert Stiftung mein Studium nicht mit einem Stipendium finanziell unterstützt hätte. Als ich 1991 an der Universität Frankfurt am Main mein Studium der Politikwissenschaften begann, war die Welt im Umbruch: Der Fall der Mauer, der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Ost-West Konflikts – all das waren massive weltpolitische Einschnitte. Und auch über die Rolle des wiedervereinten Deutschlands in der Welt wurde damals schon kontrovers diskutiert.
Doch in der Rückschau erscheinen die vergangenen zwei Jahrzehnte insgesamt als stabil und geordnet. Auf die bipolare Welt des Kalten Krieges folgte der sogenannte „unipolare Moment“ mit den USA als unbestrittener Weltmacht. Demokratie, Menschenrechte und freiheitliche Werte traten ihren scheinbar unaufhaltsamen weltweiten Siegeszug an. Und Europa ist in den vergangenen 20 Jahren immer mehr zusammengewachsen – mit einer gemeinsamen Währung und mit der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten.
Schaut man heute auf unsere Welt, so zeigt sich ein deutlich komplexeres Bild. Die Weltordnung ist „multipolarer“, komplizierter geworden. Es sitzen mehr Akteure mit am Tisch, die mitreden und -entscheiden wollen. Neue Mächte, allen voran China und Indien, drängen auf die Weltbühne. Russland schickt sich an, mit allen Mitteln seinen Status als Weltmacht zurückzugewinnen.
Eine Krise jagt die nächste – mit immer schnellerer Taktung: Libyen, Syrien, Ukraine, Ebola und die Terrorgruppe des Islamischen Staates – diese Schlagworte genügen schon, um zu verdeutlichen: Wir leben in stürmischen Zeiten! Krise scheint der neue Normalzustand zu sein. Über 60 Millionen Männer, Frauen und Kinder sind derzeit weltweit auf der Flucht, so viele wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr.
Welche Rolle kann Deutschland in dieser Welt der Krisen und Konflikte spielen? Wo sollen und wo können wir Verantwortung übernehmen? Diese Fragen sind nicht nur berechtigt, sie sind sogar überlebenswichtig für uns.
Besonders am Herzen liegt mir, dass diese Debatte nicht nur in Expertenkreisen geführt wird. Wir müssen den Dialog über unsere Außenpolitik auch mit der deutschen und europäischen Öffentlichkeit, mit den Bürgerinnen und Bürgern, führen.
Dafür ein großes Dankeschön an die Friedrich-Ebert-Stiftung, dass wir diese Diskussion heute hier in Leinfelden-Echterdingen führen können. Auch wenn ich als Teilzeit-Berliner ein großer Fan unserer Hauptstadt bin: Manchmal ist es dort wie in einer Blase. Der unvoreingenommene Blick von außen tut da bisweilen ganz gut.
Das gilt auch für unsere Diskussion heute. Richtig und falsch, Gut und Böse, schwarz und weiß – diese einfachen Kategorien gibt es in der Außenpolitik nicht.
Tut mir leid. So einfach kann ich es Ihnen nun wirklich nicht machen! Aber genau so wenig können wir uns einfach so „durchwurschteln“. Wir müssen Farbe bekennen! Und das will auch ich gleich zu Beginn tun, damit Sie alle wissen, wo die Reise hingeht: Dass Deutschland seine gewachsene Verantwortung in der Welt annimmt – das finde ich wichtig und richtig. Ich halte auch wenig davon, sich in ein nationales Schneckenhaus zurückzusehnen, das es so nicht mehr gibt.
Ein Mehr an deutscher Verantwortung sollte daher weniger mit Sorge, sondern vielmehr als Chance gesehen werden, die neue Weltordnung aktiv mitzugestalten – in unserem Sinne und auf der Grundlage unserer Werte, Ziele und Interessen.
Lassen Sie mich dieses Plädoyer mit vier Thesen untermauern:
Erstens: Zur Diskussion über unsere Verantwortung gehört nicht nur das „ob überhaupt“ und „wo genau“, sondern auch das „wie“ – also das Maß und die Mittel, wie wir diese Aufgabe angehen!
Denn gerade wir Deutsche werden immer wieder mit dem Paradox konfrontiert, das oftmals einhergeht mit Verantwortung oder Führung: Die einen fordern mehr Engagement von uns, und andere fürchten gerade dies.
Wie tief die Ressentiments teilweise sitzen, und wie schnell wieder die alten Stereotypen bei allen Beteiligten hervorgekramt werden, das hat die Griechenland-Krise Anfang des Jahres gezeigt. Und das sehen wir auch aktuell in unserer Reaktion auf die Flüchtlingsbewegungen aus dem Mittleren Osten und Afrika.
Unsere Antwort darauf kann aber nicht sein, die Hände in den Schoß zu legen – nach dem Motto „Wir können es ja eh niemandem Recht machen“. Im Gegenteil: Dies sollte für uns Ansporn sein, uns darauf zu besinnen: Was zeichnet unsere Außenpolitik eigentlich aus, auch in den Augen unserer Partner? Wie können wir aus unseren Fehlern lernen – inhaltlich, kommunikativ, strategisch?
Mir fällt da vor allem unser Anspruch ein, die Welt auch mit den Augen des Gegenübers zu sehen. Ein feines Sensorium für die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interessen anderer ist eine zwingende Voraussetzung für eine verantwortungsvolle Außenpolitik. Es ist nicht zuletzt diese Offenheit gegenüber anderen Sichtweisen, die Deutschland einen exzellenten Ruf als Vermittler in vielen Konflikten verschafft hat.
Manchmal werden wir dafür kritisiert – als „Russland-Versteher“ oder „Iran-Versteher“. Ich frage mich dann immer: Wo kommt Außenpolitik eigentlich hin, wenn Verstehen-Wollen zum Schimpfwort wird? Verständnis heißt ja nicht Einverständnis. Aber ohne Verständnis kann es eben auch keine Verständigung geben! Und darauf kommt es doch am Ende an.
Zu dem „wie“ unseres Engagements in der Welt – und das ist eine unmittelbare Lehre aus unserer wechselhaften Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen – gehört auch die Maxime „Nie wieder allein!“. Nie wieder werden wir versuchen, unseren Partnern unseren Willen aufzudrängen. Sondern wir wollen gemeinsam mit ihnen die internationale Friedensordnung und ein Europa der Demokratie, der Freiheit, der Solidarität und des Wohlstands stärken. Dies zeigt sich nicht nur in unserer engen Partnerschaft mit Frankreich, sondern auch in unserer tiefen Einbindung in internationale Organisationen – sei es in der NATO, der OSZE oder den Vereinten Nationen.
Nicht nur, dass wir uns nicht vor unserer Verantwortung wegducken sollten -– wir können es oftmals auch gar nicht. Dies ist meine zweite These. Denn eine Welt der Krisen und Konflikte zwingt uns förmlich dazu, Position zu beziehen und aktiv an Lösungen mitzuwirken. „Sich raushalten“ ist keine Option.
Das gilt für globale Bewährungsproben wie den Klimawandel, der eben nicht an nationalen Grenzen halt macht. Das gilt auch für den internationalen Terrorismus, allen voran des IS, dessen teuflisches Treiben wir derzeit in aller Brutalität und Perversion erleben.
Die furchtbaren Anschläge in Paris haben uns vor Augen geführt: Die Krisen dieser Welt sind nicht nur näher an uns herangerückt. Terror, Gewalt und Zerstörung sind im Herzen Europas angekommen. Die Anschläge galten nicht allein unschuldigen Menschen. Sie galten unseren gemeinsamen Werten. Sie galten Europa als Gemeinschaft von Demokratie und Freiheit. Sie galten unseren offenen, liberalen Gesellschaften.
Und auch mit Blick auf die Flüchtlingskrise merken wir: Es geht uns alle an, was derzeit in Syrien, Afghanistan, Somalia oder Eritrea geschieht.
Weil es uns früher oder später auch hier in Europa selbst betrifft – nicht nur virtuell, sondern ganz konkret. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wir uns durch Mauern und Zäune von den Problemen in anderen Teilen der Welt abschotten könnten. Denn auch Flüchtlingsbewegungen machen nicht an nationalen Grenzen halt, sie bahnen sich ihren Weg – bis vor unsere Haustür, bis wir sie nicht länger ignorieren können.
Und eines ist klar: Kein einzelner Staat in Europa – auch das vermeintlich so große Deutschland nicht – wird mit dieser Aufgabe auf Dauer im Alleingang fertig werden. Wir setzen uns daher für europäische Antworten ein, die vom Grundgedanken der Solidarität und der Menschlichkeit getragen werden.
Wir brauchen einen dauerhaften Mechanismus, der die Schutzsuchenden fair auf die Staaten in Europa verteilt. Zu einer europäischen Antwort zählt auch, dass wir die Außengrenzen der EU künftig gemeinsam sichern müssen. Und dazu gehört auch der politische Mut, eine europäische Grenzschutzbehörde einzurichten, die notfalls einspringen kann, wenn ein einzelner Mitgliedstaat überfordert ist.
Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Denn die Flüchtlingskrise lässt sich nicht in Europa oder an seinen Grenzen lösen. Wir brauchen eine längerfristige Antwort auf die globalen Phänomene Flucht, Vertreibung und Migration. Und auch hier ist unser Engagement gefragt.
Dazu gehört vor allem, die Lage in den Nachbarstaaten Syriens zu entschärfen, die den Großteil der syrischen Flüchtlinge aufgenommen haben. Im Libanon beispielsweise machen Flüchtlinge aus Syrien ein Viertel der Bevölkerung aus. Man muss sich mal vorstellen, was das für eine Belastung für diesen ohnehin fragilen Staat ist!
Wenn wir also dort, bei den Nachbarn Syriens Hilfe leisten – direkt oder durch die Finanzierung der Hilfsorganisationen –, dann tun wir das auch im wohlverstandenen Eigeninteresse. Denn wenn die Menschen in den Flüchtlingslagern der Region nicht mit dem Notwendigsten versorgt werden, werden sie sich zwangsläufig auf den langen gefährlichen Weg nach Europa machen.
Dies sind wichtige Schritte. Aber sie können letztlich nur Symptome lindern. Wichtiger – aber auch weitaus schwieriger – ist es, dass wir an den Ursachen für Flucht und Vertreibung ansetzen. Und dabei müssen wir uns eines klar machen: Niemand verlässt freiwillig seine Heimat. Am Anfang jeder Flucht stehen Armut, Hunger, Verzweiflung, Terror, Krieg und Vertreibung.
Konkret bedeutet das, endlich eine Lösung, zumindest aber eine Deeskalation im grausamen Bürgerkrieg in Syrien zu finden. Auch hier leisten wir unseren Beitrag: Durch intensive Gesprächsdiplomatie und Versuche, gemeinsame Anknüpfungspunkte herauszufinden.
Nach fünf Jahren Bürgerkrieg und über 250.000 Toten gibt es einen neuen Hoffnungsschimmer. In Wien hat Außenminister Steinmeier am vergangenen Wochenende erneut mit denjenigen internationalen Akteuren an einen Tisch gesessen, die für eine tragfähige Lösung gebraucht werden. Das gilt nicht nur für die USA und Russland, sondern auch für Iran und Saudi Arabien, die durch ihren Einfluss vor Ort den Konflikt weiter anheizen.
Noch immer gibt es große Meinungsverschiedenheiten. Aber alleine, dass die relevanten Akteure jetzt gemeinsam an einem Tisch sitzen, ist eigentlich schon eine kleine Sensation.
Und auch wenn es noch viele Differenzen gibt, in wichtigen Punkten stimmen die internationalen Akteure überein.
Das sind: Die territoriale Einheit Syriens zu erhalten. Den mörderischen IS-Verbrechern den Boden zu entziehen und die Ausbreitung des Terrorismus zu verhindern. Und Verhältnisse wiederherzustellen, in denen alle ethnischen und religiösen Gruppen friedlich miteinander und mit den Nachbarn leben können.
Der Syrien-Konflikt mit seinen vielfältigen Auswirkungen steht stellvertretend für die zunehmende Komplexität der Weltpolitik. Komplexe Probleme erfordern auch komplexe Antworten. Ja, das ist bisweilen eine Zumutung gegenüber einer oftmals erschöpften, desillusionierten, verunsicherten Bevölkerung. Wir alle, die wir uns mit Außen-, Sicherheits- und Europapolitik befassen, wissen das doch nur zu gut.
Verantwortung in der Welt zu übernehmen, bedeutet daher für mich auch: Wir müssen den gut gefüllten Instrumentenkasten, den uns unsere Außen- und Sicherheitspolitik bietet, noch besser nutzen. Dies ist meine dritte These. Und hier – das sage ich ganz ehrlich – haben wir noch viel Luft nach oben.
Wie sie vielleicht wissen, haben wir uns im Auswärtigen Amt in den vergangenen zwei Jahren einer umfassenden Überprüfung unterzogen, an deren Beginn die Fragen standen: Was läuft falsch mit der deutschen Außen- und Europapolitik? Und was können wir besser machen?
Mit dem sogenannten „Review 2014“ haben wir einen Prozess begonnen, um Antworten auf die Unordnung in der Welt zu finden. Dabei geht es uns in erster Linie darum, wie die Diplomatie effektiver dazu beitragen kann, Krisen zu verhindern und Konflikte zu entschärfen.
Denn bei all den Krisen weltweit gerät ja oftmals in Vergessenheit: Beharrliche Diplomatie kann sich auch auszahlen! Nicht immer, aber immer wieder!
Nehmen sie beispielsweise den Iran: Nach mehr als zehn Jahren schwieriger Verhandlungen haben wir gemeinsam mit den fünf Vetomächten dem Iran den Weg zur Atombombe dauerhaft und nachprüfbar verschlossen. Mit dem Abkommen ist auch eine Grundlage entstanden, auf der mehr Sicherheit im Mittleren Osten wachsen kann – wenn wir daran beharrlich weiterarbeiten. Denn es könnte dem Iran auch als Anreiz dienen, zu einer verantwortlichen Rolle in der Region zu finden, die wir – nicht nur mit Blick auf Syrien – dringend brauchen.
Oder nehmen sie das Beispiel Ukraine: Auch hier hat Diplomatie – ganz konkret auch unser deutsches Engagement – dazu beigetragen, den hochgefährlichen Konflikt zu entschärfen. Denn auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und Moskaus Vorgehen in der Ostukraine haben wir in der Europäischen Union ja nicht nur mit umfassenden Sanktionen reagiert.
Daneben haben wir gemeinsam mit Frankreich, der Ukraine und Russland im sogenannten „Normandie-Format“ auch einen politischen Prozess in Gang gesetzt, der zum Minsker Abkommen geführt hat. Dieses Abkommen nun auch vollständig umzusetzen, wird zweifelsohne noch viel Mühe kosten.
Frieden fällt nicht einfach so als Geschenk vom Himmel. Und es gibt auch Situationen, wo wir Friedensabkommen militärisch absichern müssen. Auch hier leistet Deutschland einen wichtigen Beitrag: In Mali und im Südsudan, beispielsweise, beteiligen wir uns an Friedensmissionen der EU und der Vereinten Nationen.
Allerdings bleibt die Friedenssicherung als Instrument in ihrer Wirkung begrenzt, wenn sie nicht in einen Prozess der politischen Konfliktlösung eingebettet ist. Das ist leichter gesagt als getan. Aber das zeigt auch, dass die Instrumente, die wir zum Einsatz bringen, besser miteinander verzahnt werden müssen.
Und zu diesem Instrumentenkasten gehört natürlich auch der Einsatz zum Schutz der Menschenrechte. Dies ist ein wichtiges Thema für uns innerhalb Europas, der OSZE und der Vereinten Nationen, wie Sie heute Vormittag auch von Botschafter Rücker, unserem Vorsitzenden des VN-Menschenrechtsrats in Genf, gehört haben. Es ist aber auch ein Thema, das mir ganz persönlich besonders am Herzen liegt.
Auch in der aktuellen Flüchtlingskrise zeigt sich: Menschenrechte sind kein abstraktes Thema, kein „nice to have“. Denn dort, wo Menschenrechte mit den Füßen getreten werden, dort wo Unterdrückung und Verfolgung herrschen, da werden die Menschen aus nachvollziehbaren Gründen die Flucht ergreifen.
Keine politische Ordnung steht auf Dauer auf stabilen Füßen, wenn sie die Rechte und Freiheiten ihrer Bürgerinnen und Bürger systematisch verletzt. Dies ist selbstverständlich auch Thema in unserem Menschenrechtsdialog, der wichtiger Bestandteil unserer Außenpolitik ist. Und deshalb setzen wir uns konkret ein für inhaftierte oder verfolgte Menschenrechtsverteidiger, Journalisten oder Blogger – ob in Saudi Arabien, dem Iran, der Türkei, China oder Russland. Wir müssen aktiv und beharrlich die Grundwerte vermitteln, die unser Zusammenleben ausmachen: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung. Wir tun dies viel öfter beharrlich hinter den Kulissen, weil es uns weniger um positive Schlagzeilen in den Medien sondern um konkrete Hilfe für Menschen in großer Bedrängnis geht.
Sie merken es vielleicht: Ich trage Europa nicht nur in meiner Amtsbezeichnung, sondern auch im Herzen. Und dass ich heute immer wieder auf Europa komme, ist ja auch kein Zufall. Denn dies ist Kern meiner vierten und letzten These: Deutschlands Verantwortung in der Welt – das ist für mich in erster Linie unsere Verantwortung in und für Europa.
Dass wir als größter Mitgliedstaat der EU eine Führungsrolle übernehmen – dass ist für uns kein Selbstzweck. Sie ergibt sich aus der tiefen Überzeugung: Gerade wir als Deutsche haben von dem europäischen Projekt, von der Solidarität unserer Partner maßgeblich profitiert. Es liegt daher auch in unserem ureigenen Interesse, die Zukunft Europas verantwortlich mitzugestalten.
Kein Zweifel: Die Europäische Union steht vor einer schweren Bewährungsprobe. Im Frühjahr und Sommer hat uns die Griechenlandkrise wochenlang in Atem gehalten. Davon spricht heute kaum noch jemand. Denn mittlerweile stehen wir mit der Flüchtlingskrise vor einer offenkundig noch viel größeren Aufgabe.
Und die Frage, wie wir hier in Europa mit den Schutzsuchenden umgehen, rührt an den Kern dessen, was unsere einzigartige europäische Wertegemeinschaft ausmacht: nämlich Menschlichkeit und Solidarität.
Millionen Menschen fliehen derzeit vor Krieg, Terror und Verfolgung in ihrer Heimat und suchen Schutz bei uns in Europa. Sie haben viel Leid erlebt und sind auf unsere Hilfe angewiesen. Deshalb ist es auch ein Gebot der Menschlichkeit, ihnen die helfende Hand auszustrecken. Das stellt uns in Deutschland derzeit vor eine große Aufgabe. Wir mobilisieren gerade alle Kräfte – in der Bundes- und Landespolitik, in unseren Kommunen und mit der großartigen Unterstützung vieler ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer. Wir wollen die Flüchtlinge anständig behandeln, menschenwürdig unterbringen und gut versorgen.
Wir kommen kaum dazu, uns mit der viel wichtigeren Frage zu beschäftigen: Wie gelingt es uns in den kommenden Jahren, diejenigen, die dauerhaft bei uns bleiben werden, in unsere Gesellschaft zu integrieren? Das ist eine Frage, die weit über das hinausgeht, wo man eine erste Unterkunft einrichtet.
Es geht darum, welche Erwartungen wir an die Menschen haben, die in Deutschland eine neue Heimat finden werden. Und es geht letztlich auch um die Frage, ob sich nicht auch Europa verändern muss.
Wir alle müssen uns zu unseren Grundwerten bekennen. Sie halten unsere Gesellschaft zusammen. Es geht aber nicht, den Zuwanderern einfach zu sagen: „Wir sind in der Mehrheit. Passt Euch gefälligst an!“ Nein, wir müssen akzeptieren, dass die Menschen, die zu uns kommen, auch unsere Gesellschaft verändern werden. Wir müssen Migration endlich als Chance – und nicht als Bedrohung – begreifen. Migration bedeutet Vielfalt. Wo keine Vielfalt herrscht, gibt es keine Veränderung. Und Veränderung ist etwas, was wir für den europäischen Fortschritt ganz dringend brauchen.
Derzeit erleben wir schwere Prüfungen für den inneren Zusammenhalt in Europa. Europa steht am Scheideweg. Zwischen einem Kontinent, auf dem wir wieder in eine Logik der Schlagbäume und der nationalen Egoismen zurückfallen. Oder einem Kontinent, der zusammenhält und gemeinsam handelt.
Wenn ich ehrlich bin: Die scharfen Töne, die wir derzeit bei vielen Partnern in Europa – und teilweise auch bei uns – hören, die bereiten mir große Sorge. Denn ich bin überzeugt: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa! Für dieses Ziel aktiv einzustehen, gegen die Verlockung des Populismus, das sehe ich als unsere gemeinsame Verantwortung – gerade auch in Deutschland.
Deutschland ist im Verbund mit seinen Partnern in Europa und in den internationalen Organisationen gut aufgestellt, um die stürmischen Zeiten mit ihren großen außen- und sicherheitspolitischen Bewährungsproben zu meistern.
Wir stehen bereit, mehr Verantwortung für Frieden und Sicherheit in der Welt zu übernehmen – aber nicht irgendwie, sondern vorausschauend, hartnäckig und als ein verantwortungsvoller Spieler im gesamteuropäischen Team.
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